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30. Jänner 1933 – Was wäre gewesen, wenn …

Last updated on 1. Februar 2022

Man nennt es kontrafaktische Geschichte, wenn Historiker überlegen, was gewesen wäre, falls die Geschichte an einem Wendepunkt  einen anderen Verlauf genommen hätte.  Wenn Alexander der Große nicht jung gestorben wäre, General Lee als Vertreter der Südstaaten am ersten Tag der dreitägigen Schlacht von Gettysburg die beiden entscheidenden Hügel rechtzeitig besetzt hätte, am 28. Juni 1914 das Attentat von Sarajevo fehlgeschlagen wäre.

Auch Autoren haben sich natürlich reihenweise solcher Szenarien angenommen, Das Orakel vom Berg von Philip K. Dick, Vaterland von Robert Harris, Geschichte machen von Stephen Fry, Der Anschlag von Stephen King. Alternativweltgeschichte nennt man das.

Der 30. Jänner 1933 hätte auch anders verlaufen können. Das künftige Kabinett wartet beim Reichspräsidenten Hindenburg auf die Vereidigung, obwohl sich die Herren nicht einig sind. Hitler will möglichst rasch Neuwahlen, die letzten Wahlen waren erst im November. Hugenberg, Zeitungsmagnat und Parteivorsitzender der DVNP (Deutschnationale Volkspartei) widersetzt sich.

Bei der Wahl im November 1932 kam er mit seiner Partei auf 8,3 Prozent. 2,4 Prozent mehr als bei der Wahl zuvor im Juli 1932. Er hat Angst, bei einer neuerlichen Wahl seinen Stimmengewinn wieder zu verlieren.

Die NSDAP,  im Jahr 1928 noch eine Splitterpartei mit 2,5%, hat nach den Wahlen 1930 plötzlich 18,3%, im Juli 1932 verdoppelt sie sich auf 37,3 Prozent.  Im November 1932 der erste Stimmenverlust, 4,2  Prozent weniger, aber trotzdem noch mit großem Abstand die stimmenstärkste Partei. Im Dezember kann Hitler die Situation gerade noch retten, als Gregor Strasser, zweitmächtigster Mann der NSDAP, von Schleicher die Viezkanzlerschaft angeboten bekommt und die Partei zu spalten droht. Hitler kann seine Gefolgsleute noch einmal hinter sich bringen, Strasser wird dafür am 30. Juni 1934 während des sogenannten Röhm-Putsch erschossen werden.

Hitler hasardiert.  Wie noch so oft. Er hat ein Drittel der Wähler hinter sich. Das Kalkül ist berechtigt, als Reichskanzler hat er beste Chancen, von Neuwahlen zu profitieren. Weiß er zu dem Zeitpunkt schon, dass in vier Wochen der Reichstag brennen wird? In den Stunden zuvor gab es Putschgerüchte, Kurt von Schleicher sei entschlossen. Hitler steht kurz vor dem Ziel, der 85jährige Reichspräsident ist ermattet und bereit, ihn ins Amt zu holen, obwohl er das zuvor immer entschieden abgelehnt hat.

Aber Hugenberg weigert sich, er will keine Neuwahlen und ohne DVNP ist die Regierungsbildung gescheitert.

Da betritt der Leiter der Präsidialkanzlei den Raum, er ist Staatssekretär und heißt Otto Meißner. Er deutet auf die Uhr und sagt in erregtem Ton: „Meine Herren, die Vereidigung durch den Herrn Reichspräsidenten war um elf Uhr angesetzt. Es ist elf Uhr 15! Sie können den Herrn Reichspräsidenten nicht länger warten lassen!“

Hindenburg, den greisen Helden der Schlacht von Tannenberg, können nationale Deutsche natürlich nicht warten lassen.  Hugenberg gibt nach, die Regierung wird vereidigt, die Geschichte nimmt ihren Lauf.  Und Otto Meißner bleibt bis 1945 Leiter der Präsidialkanzlei.

Links:
Der Standard, Szenen einer „Machtergreifung“
Die Welt, 30.1.1933

Published inGeschichtePolitik